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23. April 2019

Hauptmann für heute

Ewald Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ – Ein Blick in den Abgrund
von Johannes Wouk

Tieffliegende Geburtszangen

Das muss man sich mal vorstellen! Ein 26-jähriger Autor sorgt mit einem Stück über Inzest, Alkoholismus und sogar Tierquälerei für einen veritablen Theaterskandal. Das Publikum tobt wütend, von Akt zu Akt steigt der Lärmpegel und schließlich schmeißt ein Gynäkologe sogar eine Geburtszange auf die Bühne. So geschehen bei der Uraufführung von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ in Berlin vor ziemlich genau 130 Jahren. Die bürgerlichen Theaterbesucher flippten aus, weil der Jungautor den Naturalismus (endlich) auf die deutschen Bühnen brachte.

Podcasts für Angeber

Das alles muss man nicht unbedingt wissen bevor man sich ein Ticket für „Vor Sonnenaufgang“ im Stadttheater Klagenfurt organisiert, aber es hilft bei der Vorfreude. Zum Glück muss man für solche spannenden Background-Infos aber auch kein Germanistikstudium abbrechen, sondern kann sich, auf der Busfahrt ins Theater, gemütlich den 12 Minütigen Podcast mit der Stückeinführung anhören. Dann kommt man schon gut informiert im Foyer an und kann mit seinem Halbwissen auftrumpfen.

Hauptmann für heute

Für vertiefende Beschäftigung mit dem Stück sei aber auf jeden Fall der Erwerb eines Programmhefts für wohlfeile Euro 3,- empfohlen. Da erfährt man dann auch, dass das alte Hauptmannstück hier in der Adaption von Ewald Palmetshofer aufgeführt wird, der den zeitlosen Plot gekonnt in die Gegenwart hievt. Was Naturalismus war, wird Realismus, Depression ist das Thema der Stunde. Die zentrale Figur des Sozialreformers Alfred wird zum desillusionierten linken Journalisten der sich mit dem, nun nicht mehr kapitalistischen, sondern schon neoliberalen, Thomas über dessen dörflichen Populismus verkracht. Selbst die, bei Hauptmann noch gut versteckte, schwangere Martha hat endlich ihren großen Auftritt.

Party aus der Hölle

Bereits in den ersten Szenen kommt einem das Ganze unangenehm bekannt vor. Die Stiefmama hat einen Hang zum Prosecco, der angehende Opa ist als Profitrinker schon mittags gut bedient, Schwiegersöhnchen bekämpft den steigenden Druck der herannahenden Niederkunft ebenfalls mit reichlich Alkohol und selbst das Nesthäkchen (verkrachte Grafikdesignerin, eh klar) trinkt gern mal einen über den Durst. Nur die Schwangere darf immer noch nichts trinken aber den Konsum der anderen mit ihren Stimmungsschwankungen ordentlich anheizen. In diese Party aus der Hölle platzt dann der alte Studienfreund des Schwiegersohns der mittlerweile Journalist bei einem linken Magazin ist und sich auch prompt mit dem Provinz-Bobo über den Zustand der Gesellschaft  im allgemeinen und ihre Rolle darin im Besonderen überwirft.  Jeder von uns war doch schon mal in der ein oder anderen Rolle auf dieser „Party“.

„Wir driften“

Was aber auf den ersten Blick wie eine launige Familienaufstellung voller Soap-Opera-Klischees wirkt, kippt recht schnell, mitsamt dem Bühnenbild, in den Abgrund. Der ebenso abgründige Sound der Doors („Waiting for the Sun“, Zwinkersmiley) begleitet die emotionale Rutschpartie stimmig. Es wird gestritten, geprügelt und gesoffen was das Zeug hält. „Wir driften“, sagt der Alfred an einer Stelle ahnungsvoll. Wie die Sache dann ausgeht, wird hier naturgemäß nicht verraten (Ticket checken!!!).

Nur so viel: Beim schlussendlichen Sonnenaufgang sitzt man ziemlich geplättet im Parkett, blinzelt ungläubig die, zu Recht, intensiv beklatschten, Schauspieler an und hat noch das mulmige Gefühl im Bauch, wie es sich einstellt, wenn man etwas zu lang etwas zu nah am Abgrund stand und etwas zu tief hineingeschaut hat. Mit der Frage was wir nun mit diesem Blick in den Abgrund zwischen uns und in uns anfangen sollen tapst das sonnengeblendete Publikum hinaus in die dunkle Nacht. Auf ein Bier. Wer noch kann.