Verzweifelt komisch: Der österreichische Schriftsteller Josef Winkler erinnert sich an seinen Vater und seine Jugend in Kärnten. – Eine Rezension von Thomas E. Schmidt
Josef Winkler: Den Nazi im Leibe
August 2018 / DIE ZEIT Nr. 35/2018,
23. August 2018
Ojemine, Kärnten, dieses böse Hitler- und Haiderland – und dann wieder Kamering, das Grauen im Drautal, Österreichs absonderliches Literaturdorf! Aufs Neue hat Josef Winkler seine Kindheits- und Schicksalslandschaft zum Leben aufgeweckt, oder soll man sagen, die Toten heraufbeschworen? Er hat nichts vergessen, Winkler ist zurückgekehrt in seinen alten Kosmos und pflügt nun die Schindanger wieder auf. Und wie er es tut! Die Vergangenheit ist nicht vergangen, wie könnte sie, es gibt kein mildes Vergessen, Kärnten betreffend, das musste dieser Autor in den letzten Jahren am eigenen Leib erfahren, alles ist buchstäblich ins eigene Fleisch und Blut übergegangen, und wenn das Schreiben so etwas ist wie eine Befreiung vom Wurzelwerk des Selbst, dann ist Winkler ein Hauptvertreter dieser Art von Literatur, mit der Einschränkung allerdings, dass die Befreiung niemals gelingt. Deswegen liest man den fortgesetzten Winklerschen Roman über Kamering immer wieder gern.
Es ist noch nicht so lange her, da erfuhr der Autor, dass der Judenmörder Odilo Globocnik („Zwei Millionen hamma erledigt!“) auf einem Feld in der Nähe von Kamering verscharrt lag. 1945 auf der Flucht erkannt, tötete sich „Globus“ mit Gift und wurde von den Briten auf dem „Sautratten“ in eine Grube geworfen und planiert. Nie wurde er exhumiert, keiner wusste, wo er lag, sodass der Nazi mit den Früchten des Feldes gewissermaßen die Dörfler nährte, päppelte, in deren Stoffwechsel Eingang fand, nun in ihren Zellen anwesend ist – auch in Winklers, des Dorfes abtrünnigen Sohns.
Diese Einsicht ist Anlass eines verzweifelten, auch verzweifelt komischen autobiografischen Reinigungsversuchs, der naturgemäß misslingen muss, weil auch die ererbte Sprache molekular verseucht ist – und der doch das Äußerste darstellt, was einem Autor als Flucht und Fluch offensteht. Fast 200 Seiten lang währt dieser Erinnerungsrap, gnadenlos wahrhaftig, nicht ohne bitteren Humor, voller Traurigkeit und infolgedessen von allerhöchster Musikalität.
Wie Kastenteufel springen die Erinnerungen an die Kindheit auf. Sie kreisen um den Vater, ereignen sich gleichsam in seiner Begleitung. Die jedoch bietet dem Sohn keinen Halt. Der Vater ist nicht liebevoll, nicht einmal loyal, oder er ist es nur anfallsweise. Er bleibt, was den Sohn betrifft, eine schwierige Kindheit lang vor allem der Vertreter einer Gemeinschaft, die Anständigkeit und Gottesfurcht in schrecklicher Verkehrung lebt, die unterdrückt und verschweigt, die gewalttätig ist mit Händen und mit Worten. Sie ist mitleidlos, duckmäuserisch, niederträchtig gegen andere, ebenso wie gegen sich, sie quält ihre Kinder, treibt sie in den Tod, kennt Frömmigkeit nur als Unterwerfungsritual, verbreitet immerfort Angst und wird von Ängsten selbst geplagt, vom schlechten Gewissen, genauso geworden zu sein. Alle dort sind Verdammte auf Erden, obwohl sie das Dorf demütig in Gestalt eines Kreuzes wiederaufbauten, nachdem es 1897 von einer Feuersbrunst ausgelöscht worden war.
„Hängte sich jemand auf, dann war in der dörflichen Umgangssprache davon die Rede, daß er sich weggeräumt hatte.“ Und Onkel Franz, der bei der SS diente („Ich war’s nicht!“), fordert im Kreis der Lieben: „Ein kleiner Hitla gehört wieder her, damit wieder Ruh und Ordnung ist im Land.“ Das klingt alles grotesk und holzgeschnitzt und erzeugt in Winklers nie enden wollender Repetition von Beispielen dieser Art trotzdem ein gewisses Grauen. Auch wenn man nicht wüsste, dass sich das reale Kärnten später seinen kleinen Hitla wiedergesucht hat.
Es ist ein spätbarockes Jammertal, das der 65-jährige Winkler aus der Wahrnehmung eines Kindes schildert, und an Vanitas-Signalen ist kein Mangel. Früh schon trägt dieses Kind Falten auf der Stirn. Es magert ab („Leiche“), als wollte es sich unbewusst gegen die Diät des Globocnik wehren. Es wird dabei beobachtet, dass es mit einem Bleistift spielt und malt, und das ist kein gutes Zeichen für einen künftigen Beruf! Winkler lässt einfließen, wie sein Dorf später reagiert, als er während einer Lebens- und Schreibkrise nach Kamering zurückkehrt: Hass schlägt ihm entgegen, um sein Leben muss er fürchten, aber der Vater warnt ihn immerhin vor dem Dorf. Die Rückkehr des Sohnes missbilligt er trotzdem.
Der Form nach ist dieses Buch – das Burgtheater in Wien führte inzwischen seine Bühnenfassung auf – eine Anrufung des toten Vaters. Es trägt Züge eines Bußpsalms, eines sehr weltlichen De Profundis, es hat auch etwas von einem Kaddisch. Vor allem aber ist es ein Brief an den Vater, was nach Kafka immer mit einer Geste der Auflehnung verbunden ist sowie mit einem Appell an eine Ordnung des Daseins, wie sie eigentlich sein sollte und wie der Vater sie leben und bewahren sollte, den Sohn in sie aufnehmend – während genau das nicht geschieht, ja auch nicht geschehen darf, weil die Ordnung eine falsche ist und den Tod bedeutet.
Sodass die Rebellion notgedrungen in sich zusammensinken und in Unterwerfung münden muss. Der Vater ist die Macht, und nichts anderes bleibt dem Sohn, als dagegen anzureden und die Worte der Macht so zu verdrehen, dass er es mit der Ohnmacht aushält. So ist dieser Roman ein Zeugnis des Trotzes und des Widerstands im Rahmen eines großen, die eigene Existenz gegen Kamering und Kärnten behauptenden Schreibprojekts.
Josef Winkler übrigens lebt nach langen Aufenthalten im Ausland wieder in Klagenfurt, einer Stadt immerhin auch der Literatur. Er ist ein Beargwöhnter geblieben, und als er vor Jahren vorschlug, die Urne Haiders fortan in einer Gefängniszelle aufzubewahren, war er wieder der Aussätzige, der um sich fürchten musste.
In einer Zeit, in der Österreich sich abermals ins tröstende Schweigen rettet und Deutschland sich so viel auf seine Erinnerungskultur einbildet, dass es an Selbstzufriedenheit zu ersticken droht, ist dieses Buch über die Unmöglichkeit, die Vergangenheit auszutreiben, nicht nur brillant geschrieben, es wächst ihm beinahe eine neue politische Bedeutung zu: eine Politik des beharrlich Autobiografischen.
Josef Winkler: Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe
Suhrkamp, Berlin 2018; 200 S., 22,– €