Wiederaneignung unserer Zivilisation
Daniel Ender im Gespräch mit Bas Wiegers
Sie kommen als Geiger von der Alten Musik und sind als Dirigent sowohl Allrounder als auch Spezialist für Neue Musik. Welche Art von Musik interessiert und fordert Sie am meisten?
Bas Wiegers: Das Wichtigste für mich ist eine interessante Mischung aus Stilen und Formationen: alte Musik und brandneue Noten, Orchester- und Opernproduktionen neben spezialisierten Ensembles. Das musikalische Erbe ist Teil meines Alltags. Gleichzeitig möchte ich damit verbunden sein, was jetzt passiert, was sich in der globalisierten Welt und in der Welt der Musik ändert. Es ist eine große Freude, mit Komponisten und anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, in ihre Welt einzutauchen und zu versuchen, das zu verwirklichen, was sie sich vorgestellt haben.
In Klagenfurt dirigieren Sie die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Il canto s’attrista, perché? nach Aischylos’ Orestie. Was hat den Komponisten an dieser blutrünstigen Handlung interessiert?
Sciarrino schreibt in der Einleitung zur Partitur, dass „die Rückkehr zu den griechischen Tragödien bedeutet, sich wieder unsere Zivilisation anzueignen“. Er befasst sich mit dem Zustand der Gesellschaft und hinterfragt seine eigene Rolle und – glaube ich – unsere Rolle als Künstler. Sollten wir uns opportunistisch verhalten, sollten wir uns zu Wort melden, können wir etwas tun, um den Lauf der Geschichte zu ändern? In der Orestie hilft uns Aischylos, uns von innen heraus zu betrachten: unsere Widersprüche, die Machenschaften unserer Gesellschaft und Politik.
Wie würden Sie Sciarrinos Stil beschreiben?
Vor allem als extrem bunt und suggestiv. Es klingt fast so, als wäre seine Musik aus Wind und Staub, aus Seufzen und Weinen. Das Orchester „unterstützt“ die Sänger kaum, sondern gibt ihnen lediglich ein Skelett von äußerst suggestivem Klang – wie eine emotionale Aura der „inneren Welt“ der Charaktere. Er evoziert eine Klangwelt, die extrem flexibel ist, jeder Moment ist ein Moment der Veränderung. Und wenn es einen Moment des Stillstands gibt, ist das so voller Spannung, dass es immer noch energetisch aufgeladen ist. Für die Darsteller ist dies äußerst anspruchsvoll, da man sich voll und ganz konzentrieren und fokussieren muss. Es ist eine Virtuosität, die ich irgendwie mit komplexer Barock- oder Renaissance-Musik verbinde: schwer zu erreichen, aber am Ende sollte es ganz natürlich und fast improvisiert klingen.
Was sind die größten Herausforderungen bei den Proben? Sciarrino verlangt ja den Sängern recht viel ab…
Es ist ein langer Prozess. Diese Musik ist sehr schwer zu lernen und es so in sein System zu bekommen, dass man es mit Freiheit realisieren kann. Für mich als Dirigent bedeutet dies, dass ich den Sängern die Unterstützung geben muss, die sie brauchen – manchmal Präzision, manchmal Freiraum – und gleichzeitig den Fluss des Stücks, die Balance und die Klangqualität im Auge behalten muss. Die Sänger müssen das Material in ihren ganzen Körper bekommen, nicht nur in ihr Gehirn. Der Chor spielt auch eine große Rolle, indem er die Szene kommentiert und an der Entwicklung der Charaktere teilnimmt. Dies mit einer Gruppe von Menschen zu „organisieren“, ist noch komplexer, aber sehr lohnend.
Worin sehen Sie die Botschaft des Stücks für unsere Gegenwart?
Der Titel des Stückes stammt aus der vierten Szene, wo der Chor singt: „Ein Schatten flattert an mir vorbei. Warum wird mein Gesang traurig?“. Diese innere Erkenntnis, dass das Lied im Menschen traurig ist, bringt uns zur Selbsterkundung. Es ist, als ob Sciarrino – oder Aischylos – uns sagen möchte, dass nur diese Reflexion und die Weisheit und Demut, die daraus folgen könnten, das einzige sind, das uns vor Katastrophen bewahren kann.
erschienen in: Die Bühne, März 2020