1. Februar 2021

Aischylos zwischen Horrorfilm und Geistergeschichte

Nigel Lowery inszeniert die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper Il canto s´attrista, perché? und gestaltete auch Bühne und Kostüme – ein Gespräch über finstere Klangwelten und Gesellschaftsbilder im Wandel.

Welche Bedeutung hat der Titel der Oper Il canto s´attrista, perché?
Der Titel, Der Gesang wird traurig, warum?, ist eine Frage und beschreibt eine Art inneren Monolog. Salvatore Sciarrino verwendet diesen Satz, der vom Chor gesungen wird, als Reflexion einer psychologischen Situation: einer Unfähigkeit, die zerstörerischen Kräfte zu verstehen, die in der unmittelbaren Lebensrealität der Charaktere wirken.

In welchem Zusammenhang steht dieser zentrale Satz zum Thema der Oper?
Die Oper basiert auf Agamemnon, dem ersten von insgesamt drei Teilen der Orestie des Aischylos. Ich finde es interessant, dass Aischylos´ Werk eine Art Fortschreiten einer ganzen Gesellschaft von der Dunkelheit ins Licht beschreibt. Wenn man zum dritten Teil kommt, wird die Gewalt und Rache, die dieser Gesellschaft innewohnt, auf eine demokratische Art und Weise aufgelöst. Es bildet sich ein neues Gemeinwesen: Die primitivere Situation von »Auge um Auge« und »Zahn um Zahn« wird abgelöst von einer humanistischeren Einstellung und neuen sozialen Strukturen. Der erste Teil, Agamemnon, konzentriert sich aber noch auf eine viel dunklere, neurotische, gewaltbestimmte Atmosphäre.

Wie schlägt sich diese finstere Atmosphäre in der Musik und in Ihrer Inszenierung nieder?
Die Klangwelt ist unglaublich wichtig in diesem Stück, das auch sehr stark von Spannungen und Verdacht bestimmt ist. Es gibt ständig Veränderungen, man versteht nicht, was als nächstes passiert. Vor diesem psychologischen Hintergrund und der Kerngeschichte aus dem Stück, die Heimkehr des Agamemnon aus dem Krieg, habe ich mich auf einen dunklen und geheimnisvollen Wald als Schauplatz festgelegt.
Alles ist sehr düster, zwischen Horrorfilm und Geistergeschichte angesiedelt. Die Kutsche, die als Agamemnons Kriegswagen auf der Bühne zu sehen ist, erinnert an einen Trauerzug des 19. Jahrhunderts. Hauptelement des Bühnenbilds ist aber ein schwarzes Haus ohne Fenster mit nur einer Tür, eine Art Gefängnis. Ein Haus symbolisiert aber auch eine Person und ihre Seele. Die Tür fungiert als Mund, als Vakuum, das alles in seine Dunkelheit hineinsaugt. Schließlich fallen die Wände des Hauses zusammen und das Skelett dieses menschlichen Gebäudes wird freigelegt. Die Gesellschaft bleibt auch am Ende sehr düster, pessimistisch und trostlos.
Die Handlung wird bestimmt von Ereignissen, die bereits stattgefunden haben und von solchen, die in der Zukunft liegen. Kassandra, die Hauptfigur des Stückes, kann künftige Schrecken voraussehen und informiert uns. Während dieser Szene sehen wir eine lange Bildersymbolik, eine Reise durch das Innenleben des Hauses auf der Bühne. Mit allen Beweisen über die Dinge, die stattgefunden haben und stattfinden werden. Erst als die Wände fallen, konkretisiert sich die geisterhafte Bilderwelt.