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10. Januar 2024

Anmerkungen zu den »Jagdszenen«

Die Fabel des Stückes ist von Bayern unabhängig.

Es ist kein Dokumentarstück, sondern konstruiert. Am Beispiel der Menschen im niederbayerischen Dorf Reinöd wird das Verhalten einer Gemeinschaft gezeigt, die die Aussonderung von Elementen betreibt, die ihrer Ordnung nicht entsprechen. Die Gemeinschaft im Dorf setzt sich nicht aus Ungeheuern zusammen, sondern aus normalen Menschen. Sie operieren nur gemeinsam, sobald ein gemeinsames Interesse – meist moralischer Natur – verletzt wird, jedoch gewahrt und verteidigt werden soll.

Die Jagd geht auf Menschen los, die durch Umstände oder Eigenschaften außerhalb dieser Gemeinschaft stehen und dadurch jagdbar sind. Dass jeder Einzelne in dieser Gemeinschaft ein potenzieller Außenseiter ist, zeigt, dass, sobald der Außenseiter integriert ist, er die Jagd auf den anderen mitmacht und sein Verhalten nach den Normen der Gruppe richtet. Die Außenseiter sind nicht edler oder besser als die Menschen, die jagen. Sie unterscheiden sich in ihren Haltungen nur durch den Ausschluss aus der  Gemeinschaft, zu der sie gern gehören würden.

In Jagdszenen hab’ ich versucht, darzustellen, dass jeder von uns so wie der Abram zum Außenseiter werden kann. Wobei man nicht vergessen darf, dass so Leute wie der Abram zum Teil unglaubliche Rindviecher sind, weil sie nichts anderes im Sinn haben als in die Gesellschaft, die sie nur ausnützt, integriert zu werden.

Martin Sperr

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Das Stück hat eine recht wüste Genese: Ein wütender Jungautor schickt in ersten Fassungen ein ganzes Dorf – an die 300 Figuren – auf die Bühne und lässt in diesem gewaltigen, auch gewaltig langem »Epos« in expressionistischen Einschüben erst die Sonne, später auch den Mond explodieren. Zur Uraufführung an Kurt Hübners legendärem Bremer Theater 1966 kommt es nur nach unzähligen Umarbeitungen. Die Kritik empört sich über die »ekelhaften, brutalen Typen, mit denen Sperr die niederbayerische  Landschaft bevölkert« – »Blut und Hoden« titelt Der Spiegel: Ein veritabler Theaterskandal.

Den Jagdszenen gelingen erst ein Jahr später in Berlin – nach vielen weiteren Strichen – der Durchbruch: Die Inszenierung an der Schaubühne am Halleschen Ufer mit Sperr als Rovo, wird von Publikum wie Kritiker*innen gefeiert. In der preisgekrönten Verfilmung von Peter Fleischmann 1968 spielt der Autor selbst den Abram, neben Angela Winkler als Tonka und Hanna Schygulla als Paula. Die österreichische Erstaufführung findet 1974 am Wiener Volkstheater statt, selbst Burgtheater-Ehren werden Sperrs Volksstück zuteil. Ein Mal noch verkörpert Martin Sperr eine seiner Figuren. 1984 im Münchner Volkstheater: da ist er – ausgerechnet – der Pfarrer.