Das Entwerfen von Bühnenräumen verstehe ich für mich persönlich als ein Entwerfen von Welten. Innerhalb dieser Welten gelten oftmals ganz eigene Gesetzmäßigkeiten, die man im Verlauf einer
Probenzeit erst einmal gemeinsam herausfinden muss. Im Zentrum steht aber immer die Geschichte, die man glaubwürdig erzählen möchte. Und hinter jeder Geschichte stehen auch immer Menschen, die trotz aller möglichen Gegensätze in dieser entworfenen Welt ein gemeinsames Zuhause finden sollen. Darin besteht meine hauptsächliche Aufgabe und gleichzeitig auch immer wieder meine größte künstlerische Herausforderung als Bühnenbildner.
Das hat aus meiner Sicht wenig mit dem Bebildern einer Geschichte zu tun, sondern in erster Linie mit einer Interpretation und einer klaren Haltung gegenüber einer bestimmten Erzählung und den
darin vorkommenden Figuren. Dabei ist das Entwerfen einer Bühnenwelt grundsätzlich immer auch eine Erfindung, die zwar Anknüpfungspunkte in der Realität haben kann, sie manchmal sogar haben muss, aber schlussendlich weit darüber hinausgehen sollte, um eine theatrale Überzeugungskraft entfalten zu können. Bei Cabaret wird das brisante Thema verhandelt, was mit Menschen passiert, die durch äußere Umstände ins Abseits getrieben werden. In diesem Fall sind es rechtsextreme politische Umstände innerhalb einer Gesellschaft, die zu einer Ausgrenzung von einer Gruppe von Menschen führen, die aufgrund einer willkürlich behaupteten Norm und der damit verbundenen Moralvorstellungen plötzlich aus dem Raster fallen. Es ist eine Geschichte über die Kriminalisierung von Normalität und über die Unterdrückung von individuellem Denken und Sein in all seinen Facetten. Eine Geschichte über das Ende von Freiheit.
Der Handlungsort von Cabaret ist Berlin Anfang der 30er Jahre, kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Auf der Suche nach Inspirationen begann meine Recherche daher genau an
diesem konkreten Ort und in genau dieser Zeit. Für uns als künstlerisches Team war das der erste Anker, den wir warfen. Auf der Suche nach einem ersten Ausgangspunkt, woraus sich dann eine räumliche Idee enfalten konnte, stießen wir auf das ehemalige Olympische Dorf von 1936 vor den Toren Berlins im brandenburgischen Elstal, das von den Nazis erbaut wurde. Bis heute weiß die deutsche Hauptstadt nicht so richtig, wie sie mit diesem belastenden Erbe umgehen soll. Aktuell ist es eine verwahrloste Ruinenlandschaft, die das bestehende Dilemma einer angemessenen Vergangenheitsbewältigung als Zustand sehr gut veranschaulicht.
Mein besonderes Interesse innerhalb dieses Areals weckte das Foto einer verlassenen Schwimmhalle, weil ich auf der Suche nach einem geeigneten räumlichen „Behälter“ für die Handlung des
Musicals war, der es mir ermöglichen würde, daraus eine Welt zu entwerfen, die ich dann mit verschiedenen Dingen füllen könnte, die den inhaltlichen Fokus der Inszenierung visuell verstärken
würden. Dieser Ort war tatsächlich auch inhaltlich interessant, weil er historisch gesehen etwas sehr Gegensätzliches zueinander in Bezug brachte: Den Olympischen Gedanken, als einem grundlegenden Gedanken des Friedens und der nationenüberschreitenden Verbundenheit. Als Gegenpol dazu die Tatsache, dass dieser Ort von so menschenverachtenden Ideologen errichtet wurde, die diesen Gedanken mit ihren Verbrechen historisch auf bis dahin nie dagewesene Art und Weise pervertiert hatten.
Es war der Begriff der „Zweckentfremdung“, der sich daraus für mich als essenzieller Baustein für die räumliche Entwicklung von Cabaret herauskristallisierte: Etwas, das jeder zu kennen glaubt, wird plötzlich für etwas mißbraucht, das mit der ursprünglichen Idee und der Funktion eines Ortes nicht das Geringste mehr zu tun hat und damit zutiefst irritiert. Was wäre, wenn man Menschen zwingen würde, an so einem Ort zu leben, sie ganz plötzlich und auf brutale Weise aus ihrem natürlichen Lebensumfeld herausgerissen hätte? Wenn das ihr letzter Ort wäre, ihre klaustrophobische Endstation ohne möglichen Ausweg? Daraus enstand dann die räumliche Idee für Cabaret. Angereichert habe ich diese Idee mit weiteren Elementen, wie einem riesigen Berg aus entsorgten Möbeln darin, der gleichsam für die vielen unbekannten Menschen dahinter und ihre nicht mehr existierenden Lebensweisen steht und noch beängstigend viel Platz für seine Ausbreitung hat. Ein Bild der Abwesenheit und der fortschreitenden Zerstörung.
Ein Neon-Schriftzug an der Rückwand benennt Dinge, die wie eine unerreichbare Utopie oder beinahe wie eine Lüge an so einem Ort klingen. Und eine markante Abrisskante zeigt, daß dieser Ort einmal mit etwas ganz anderem gefüllt war, das aber unwiederbringlich verschwunden ist, weil jemand Gewalt angewendet hat. Als Ganzes macht diese sichtbare Welt auf der Bühne einen Zustand von hoffnungsloser Ausweglosigkeit haptisch und emotional erfahrbar. Und das mit einer großen Unmittelbarkeit. Auch für den Betrachter stellt er deshalb eine Herausforderung dar, weil er keinen komfortablen Rückzugsort in Vertrautes bietet und sich über den Abend sozusagen in die Pupille einbrennt.
Es ist gewissermaßen ein offensiver Bühnenraum. Es ist aber auch ein vielschichtiger Raum, der durch die Zeiten geht, weil er gleichsam die Vergangenheit in Erinnerung ruft und dabei gleichzeitig in seiner urbanen Facette an unsere Gegenwart anknüpfen kann und sogar darüber hinaus…auch in eine bedrohliche Zukunft weisen kann.
Als Bühnenbildner von Cabaret empfinde ich für mich persönlich diese Arbeit als sehr gelungen, weil sie Hand in Hand mit der Inszenierung und den Geschichten der Menschen darin weit über die
Realität hinaus geht und dadurch zu einer räumlichen Metapher wird, in gewisser Weise auch zu einem Mahnmal gegen das Vergessen, was gelebte Freiheit ganz konkret für jeden Einzelnen bedeutet.
Dass diese von mir entworfene Bühnenwelt einen bewussten Bruch mit allen Erwartungshaltungen an das Schöne und Leichte darstellt, liegt offen und für alle sichtbar auf der Hand. Aber Cabaret
erzählt eine außergewöhnliche und erinnerungswürdige Geschichte von Menschen, denen leider kein „Happy-End“ gegönnt wurde. Diese Geschichte sollte man nicht vergessen.
Rifail Ajdarpasic