Die Frau vom Meere
Text: Hans Mrak
Sprecherin: Doris Hindinger
Musik: Fabian Kuss
Gesang: Nico-Alexander Wilhelm
<Musik: Fabian Kuss Fjord>
Lieber Brandes!
Können Sie erraten, was ich erträume und plane und mir als etwas Wunderschönes ausmale? Das ist: mich am Öresund niederzulassen, zwischen Kopenhagen und Helsingör auf einer freien offenen Stätte, wo ich alle Meeressegler sehen kann, wie sie aus weiter Ferne kommen und in weite Fernen ziehen.
Das kann ich hier nicht. Hier sind alle Sunde zu – in jedem Sinn des Wortes – und alle Kanäle des Verständnisses verstopft. O, lieber Brandes, was mich am meisten anzieht, das ist das Meer – -.
Na, werden Sie nur vor allen Dingen wieder munter, und zwar ohne allzuviel Schmerzen, und dann auf Wiedersehen in dem neuen Heim, wo der Sund offen vor mir liegt.
Christiania, den 3. Juni 1897 – Ihr treu ergebener – Henrik Ibsen
Knapp 10 Jahre zuvor, 1888, finden sich derselbe Gedanke, ähnlich formuliert, in seinem Schauspiel Die Frau vom Meere, wenn in einer zentralen Szene Ellida, die Titelgestalt, ihren früheren Verehrer Arnholm wiedertrifft. Ellida ist eine von mehreren Frauenfiguren des Dichters, die in unglücklichen Verhältnissen lebt und von einer Sehnsucht getrieben wird – Nora Helmer oder Hedda Gabler sind wohl die Bekanntesten. Damit wurde und wird Ibsen immer wieder gerne als »Protofeminist« gelesen, was er jedoch so nicht war: Als Sozialist befasste er sich – unvermeidlich – mit der sogenannten Frauenfrage im Norwegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und er hat die Frauenbewegung beeinflusst. Aber in mindestens dem gleichen Maße wurde auch Ibsen von der Frauenbewegung beeinflusst. Der Dramatiker hat Zeit seines Lebens eine Ehrenmitgliedschaft im Verein für die Sache der Frau abgelehnt, und stets betont, nicht für die Sache der Frau, sondern für Gleichberechtigung und Menschenrechte zu kämpfen.
»Der Geist der Wahrheit und der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft!«, mag so als Motto über allen Arbeiten Ibsens stehen. So beschreibt Ibsen in seinen Stücken nicht nur »die Frau, welche sich versucht zu entwickeln«, sondern er beschreibt Frauen in einer bestimmten Umgebung, welche sie einengt und aus welcher sie ausbrechen wollen oder müssen – diese Sehnsucht: nach Freiheit, auch: nach der Möglichkeit, frei zu entscheiden bestimmen diese Frauengestalten wie Rita Allmers (Klein Eyolf), Berthe Rosmer (Rosmersholm), Nora, Hedda Gabler und nicht zuletzt Ellida, die Frau vom Meere: »Ibsens Wissen vom Menschen wird nirgends deutlicher als in seinen Frauenporträts«, befindet James Joyce in seinem viel gelesenen Essay über Ibsen.
Bereits Hugo von Hofmannsthal hat Ibsens Beschäftigung mit der Psychoanalyse bemerkt und im Zuge seiner Auseinandersetzung damit, einen Menschentypus der Ibsen’schen Figuren definiert: »Alle diese Menschen leben ein schattenhaftes Leben; sie erleben fast keine Taten und Dinge, fast ausschließlich Gedanken, Stimmungen und Verstimmungen. Sie denken übers Denken, fühlen über sich Fühlen und treiben Autopsychologie.« Diese Charakterisierung trifft genau auf Die Frau vom Meere zu. Lange Zeit geschieht überhaupt nichts im Stück. Die Figuren sitzen im Garten oder spazieren durch die Gegend; dabei sprechen sie miteinander, erzählen von ihrer Vergangenheit oder davon, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Keine der Figuren sieht jedoch akuten Handlungsbedarf. Dies ändert sich erst in jenem Moment, in welchem ein fremder Seemann in den kleinen Badeort kommt und Ellida zurückfordert. Was nun? Was tun?
<Musik: Fabian Kuss I can´t stop, Gesang: Nico-Alexander Wilhelm>
In unsrer modernen säkularisierten Welt, in der höhere Mächte ausgefallen, Götter verblasst sind, muss jeder einzelne Mensch aktiv werden: sich für eine Sache einsetzen, seinen Sinnen und seinem Gemüt vertrauen. Doch genau dies ist dem auf sich selbst zurückgeworfenen modernen Menschen nicht so leicht möglich. Es fällt ihm schwer, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leben und Tod, Gutem und Bösem, wahr und falsch, real und imaginiert, normal und verrückt zu unterscheiden. Doch es bedarf am Ende einer beherzten Entscheidung, um sich auf den eigenen zukünftigen Weg konzentrieren zu können. Die Frage, die Ibsen vor mehr als 100 Jahren in Die Frau vom Meere aufwarf, was überhaupt die Kriterien sind, um entscheiden zu können, ist zeitlos: Verpflichtungen, Gebundenheiten, Abhängigkeiten, Veranlagungen – oder eher Visionen, Träume und Wünsche? Was hängt daran, wegzugehen, aus seinem bisherigen Leben auszusteigen und was wird dabei gewonnen?
Ibsens Stück, zugespitzt in der Bearbeitung von Moritz Franz Beichl, fragt: Ist eine Akklimatisierung an ein falsches Beziehungs- oder Familienklima möglich? Inwiefern und zu welchem Preis kann sich der Mensch verbiegen und in einen (Familien-)Raum einpassen, der traditionell für Liebe und Unterstützung, Rückzug und Geborgenheit steht, gegenwärtig jedoch als verstockt, vergiftet und tot empfunden wird? Die Protagonistin und der Protagonist des Stücks konstatieren: Nur unter der Voraussetzung freier Wahlmöglichkeit und indem sie Verantwortung für sich und andere übernehmen, können sich Menschen in neuen familiären und Liebes-Räumen akklimatisieren.
Ibsens Ellida ist wie ein Brennglas, in dem sich emotionale Bedürfnis- und Gefühlslagen einer ganzen Generation von Frauen vor und um die Jahrhundertwende 1900 verdichten. Der junge Autor und Regisseur Moritz Franz Beichl schärft Ellidas Profil und findet Anteile Ellidas in Menschen seiner Generation.
Ihr persönliches Unglück scheint bei Ibsen als soziale Pathologie auf. Mit dem Stück traf er ins Innere des ungleichen Geschlechterverhältnisses. Ellida ist jedoch keine Vorkämpferin für Frauenrechte,soziale und politische Gleichberechtigung oder gleiche Bildungschancen. Ihre Form von Befreiungswunsch ginge nie in äußerichen politischen Programmen auf. Vielmehr macht sie – tiefergreifender – gravierende Probleme auf der Mikroebene der Beziehung zweier sich liebender moderner Menschen sichtbar. In dem Ehepaar, Ellida und Wangel, bündelt sich ein irritiertes, vielfach gebrochenes Bild, in dem Teile des traditionellen Geschlechterverhältnisses instabil geworden sind und der weibliche Part für sich Emanzipation und Freiheit reklamiert.
Das Meer birgt verschiedene Figuren und Funktionen. Im Verlauf des Stücks füllt es sich mit unheimlichen Elementen: Vermählungsringen, entfremdeten Seejungfrauen, versunkenen Schiffen und toten Seemännern. Genau wie Ellida selbst verkörpert es Unberechenbarkeit und Wildheit, es bedarf der Steuerung, will man nicht auf ihm verloren gehen oder in ihm versinken. Für die schwärmerische Ellida ist es ein Sehnsuchtsraum, der Vollkommenheit und Glück, Freiheit und Unendlichkeit verheißt – maritime Verliebtheit. Statt sich nach der Menschenwelt und dem ruhigen idyllischen Fjordleben zu sehnen, verzehrt sich Ellida nach dem Sturm und der Stille des Meeres. Wie vom Meer fühlt sich Ellida von einem potentiellen eigenen wahren Leben angezogen, das abschreckt und anzieht – auf diese Spannung kann sie nicht verzichten.
Das Meer ist zugleich jedoch ein abschreckender Risiko- und Gefahrenraum, der immer wieder seinen Tribut fordert. Genau deswegen ist er so reizvoll für Ellida. Wie Nymphen, Wassergeister, verkörpert die Hauptfigur das Element Wasser und strebt danach, sich selbstständig ins Wasser zurück zu ziehen. Dadurch, dass Ellida sich am Ende von Totem trennt, kann sie sich auf das Gegenwärtige konzentrieren. Auf ihrer mutigen Fahrt in ein unbekanntes neues Leben wird sie das Steuer selbst in die Hand nehmen.
<Musik: Fabian Kuss Like the Tide, Gesang: Nico-Alexander Wilhelm>