Eine Barockoper in Tatort-Länge: Florentine Klepper inszeniert Händels Alcina . Ein Gespräch über das Streichen von Wiederholungen, das Zerrinnen von Macht und die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt.
(Kleine Zeitung/Marianne Fischer)
Im Stadttheater werden Opern derzeit ohne Pause gespielt. Die „Alcina“ dauert normalerweise rund dreieinhalb Stunden. Wie lange dauert Ihre Fassung?
Florentine Klepper: Rund 90 Minuten. Der Dirigent Attilio Cremonesi und ich haben versucht, gemeinsam eine überzeugende Fassung zu erstellen, bei der die Handlung erhalten bleibt und jede Figur genug Raum hat.
Ist es bei Barockopern leichter, weil es sehr viele Wiederholungen gibt und man das fünfte Da capo dann doch streichen kann?
Ja, irgendwie schon. Außerdem sind die Stücke früher ja auch so entstanden, dass Arien eingefügt wurden, weil Sänger sich noch etwas gewünscht haben oder jemand beschäftigt werden musste. Deshalb gibt es da schon auch sehr viele Kurven in der Handlung, wo man als Zuschauer oft gar nicht mehr weiß: Worum geht es denn eigentlich gerade? Aber in dem Moment, wenn man nur auf 90 Minuten gehen soll, leidet man mit jedem Schnitt, weil plötzlich besonders auffällt, dass das Stück doch gut gebaut ist.
Wie einigt man sich da mit dem Dirigenten? Steht die Musik im Vordergrund oder die Handlung?
Total partnerschaftlich. Attilio hat das Stück schön öfters gemacht und weiß um die Fallstricke. Als es um die erste Fassung ging, war er ein Verfechter davon, ganze Arien zu streichen und nicht nur Da capi. Wir Regisseure kürzen ja ganz gerne bei den Wiederholungen, weil es nach unserem modernen Empfingen ein Auf-der-Stelle-Treten ist. Letztlich mussten wir dann doch viele streichen, um die Geschichte zu erhalten. Und jetzt diese Geschichte plötzlich sehr rasant, eine „Tatort“-Länge. Aber ich merke: Wo es noch Da capi gibt, dort ist dann der Atem da. Das ist für mich eine Erkenntnis: Diese Form der Da-capo-Arie schützt eine psychologische Entwicklung.
Wir leben ja in einer schnellen Zeit. Ist es da nicht ohnehin zeitgemäßer, wenn es schneller geht?
Vielleicht schon. Aber jetzt ist es erst einmal aus der Not geboren und ich bin dankbar, dass wir sogar den Chor auf der Bühne haben. Die Sänger stehen mit einem Meter Abstand zueinander und es gibt Bilder, wo das auch gar nicht auffällt. Aber es erfordert eine große Disziplin von allen Beteiligten und es ist neu, dass wir da so viel Energie hineinstecken müssen.
Welche Funktion hat der Chor auf der Bühne?
Sie sind die Anhänger Alcina, ihr Hofstaat und auch ihre verzauberten Liebhaber.
Die Zauberin herrscht mittels Magie, es ist ja keine reale Macht. Wie holt man diese Figur ins Jetzt?
Wir erzählen die Geschichte zu einem Zeitpunkt, an dem Alcina ihre Magie schon verloren hat. Es geht um Vergänglichkeit, um den Verlust des Charismas. Manchmal wird Alcina als ältere Frau dargestellt. Wir gehen einen anderen Weg: Wir zeigen eine junge, schöne Alcina, die ihrem Volk eine Alternative anbietet. Es ist ein Punkt, der oft in Vergessenheit gerät: Die Menschen, die auf der Zauberinsel stranden, kommen ja aus dem Krieg und sie werden auch als Krieger begrüßt. Alcina bietet eine Alternative zu dieser kriegerischen Welt. Und da liegt für mich das Interessante: Wo liegt diese Alternative? Auf dieser Insel wird ja auch die eine oder andere Pflanze angebaut, die bewusstseinserweiternd ist. Und Alcina weiß um die Wirkung dieser Kräuter und wie man sie zusammenbraut.
Also fast eine Hippie-Geschichte?
So würde ich das nicht sagen. Aber es ist ja im Moment schon politisch, wenn man sich entzieht. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns als Gesellschaft sehr spalten. Jeder weiß genau, was richtig ist und was falsch. Deshalb war es mir so wichtig zu erzählen: Das sind Menschen, die nicht mehr Teil dieser Realität sein wollen, die aussteigen wollen. Also eher eine Kommune, wo jeder frei leben kann.
Aber irgendwann muss man wieder zurück in die Realität?
Am Anfang haben wir eine Insel der Seligen, die eine Alternative ist. Aber dann passiert ein interessanter Prozess, den man vielleicht damit vergleichen kann: Die vehementesten Nichraucher waren einmal Raucher. Und so wird aus Ruggiero, der sich Alcina hingegeben hat, wird der Mann, der Alcina vernichtet, auch indem er ihre ganze Jüngerschaft missioniert und mitnimmt. Und das ist ja ein gefährlicher Moment, wenn Menschen entzaubert werden und zu erkennen glauben: Jetzt weiß ich, wohin ich gehöre. Wir erleben das ja gerade, dass Menschen plötzlich anfangen, andere von ihrer Wahrheit zu überzeugen und in ein ganz enges Raster zu pressen. Es war für mich interessant, wie groß das Gefälle in der Geschichte ist: Am Anfang hat man das Gefühl, Alcina ist allmächtig, aber dann zerrinnt diese Macht, nur weil jemand die richtigen Worte findet.
Und am Ende bleibt sie vernichtet zurück?
Wir haben einen kleinen Kunstgriff gemacht: Wir lassen das Stück nicht mit dem Chor enden, sondern wir nehmen eine Arie von Alcina aus dem 2. Akt, stellen sie an das Ende und geben Alcina das letzte Wort. Sie ist also nicht völlig vernichtet und mundtot gemacht, sondern hat noch eine Stimme. Und sie weiß nach wie vor, wofür sie steht. Man kann dieser Frau viel vorwerfen, aber wenn man sagt: Sie ist das Gegengewicht zum Krieg da draußen, ist sie eine ganz starke und und überzeugende Persönlichkeit. Aber natürlich muss man sich angesichts der manipulativen Kraft der Figur auch immer fragen: Heiligt der Zweck die Mittel? Auch insofern ist die Oper sehr politisch.
Was ist eigentlich für Sie der besondere Reiz an Barockoper?
In meinem Empfinden ist Barock – vor allem in den Rezitativen – ganz nah dem Schauspiel. Und das ist ja der Bereich, aus dem ich ursprünglich komme. Gleichzeitig sind die Rezitative auch die Herausforderung für die Sänger, sich auf die Handlung, aufs Spiel einzulassen. Aber ich bin sehr dankbar für die Abwechslung, ich mache einfach alles gerne im Musiktheater vom Barock bis zu zeitgenössischen Opern. Als nächstes inszeniere ich in Braunschweig „Dead Man Walking“, eine US-Oper, die 15 Jahre alt ist. Ein sehr gutes, berührendes Stück, das von der Todesstrafe handelt und das dem bekannten Film nachkomponiert wurde. Und jetzt, wo der Supreme Court in den USA neu besetzt wird und die Konservativen eine ganz starke Stimme haben, bin ich dankbar, dass dieses Stück mit diesem wichtigen, immer wieder diskutierten Thema auf den Spielplan kommt. Ich hoffe nur, dass es im Februar dann auch tatsächlich gezeigt werden kann.
Wie ist Ihnen während des Lockdowns gegangen?
Ich hatte eine Woche vorher Premiere und es konnten nur zwei Vorstellungen gespielt werden. Aber ich hatte natürlich Ausfälle im Frühjahr. Ich war wie viele zu Hause. Alle Freiberufler sind derzeit mit einer großen Unsicherheit konfrontiert. Ich denke, die Auswirkungen werden noch sehr stark sein, denn die Krise wird Auswirkungen haben auf Subventionen. Vieles ist bei mir ersatzlos weggefallen, einiges verschoben worden.