Aron Stiehl, Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, im Chefpresso-Interview über die gereizte Gesellschaft, Theater und Religion, Millionensubventionen und das kollektive Wegschauen im Fall Franz Wurst.
(von Wolfgang Fercher / Kleine Zeitung)
Bei Corona-Demonstrationen sammelten sich Tausende Menschen vor dem Stadttheater. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Aron Stiehl: Das Demonstrationsrecht ist ein unumstößliches Grundrecht. Aber ich glaube, dass oftmals jene, die am lautesten schreien, nicht wissen, was Freiheit wirklich bedeutet, und sie eigentlich die Demokratie ausheben wollen. Das macht mir Angst.
Was kann Theater leisten, um dem entgegenzuwirken?
Theater steht für Aufklärung und hat die Demokratie zu vertreten. Wir müssen der Gereiztheit, den Ressentiments, der Suche nach Sündenböcken entgegentreten. Sonst passiert das, was vor dem Ersten Weltkrieg passiert ist.
Sie haben in der Pandemie das Ungleichgewicht zwischen Kultur und Religion beklagt. »Ein Theaterbesuch kann genauso viel Licht und Kraft spenden wie eine Kirche«, meinten Sie. Warum wurde die Religion bevorzugt?
Das müssen Sie die Herrschaften fragen, die das beschlossen haben. Vielleicht springt das Virus in der Kirche nicht so leicht über wie im Theater.
Sind die in der Coronazeit kürzer gewordenen Inszenierungen ein Modell für die Zukunft?
Das würde ich so nicht sagen. Ich bin auch für die Kürze, aber es gibt Stücke, auf die man sich stundenlang einlassen muss. Das ist nicht alles intellektuelle Kopfarbeit, sondern soll und muss auch sinnlich berühren.
Denken Sie bei den Produktionen immer an die Theaterbesucher oder ist das eher ein Elfenbeinturm, in dem Sie sich künstlerisch verwirklichen wollen?
Ich versuche, das Publikum immer mitzunehmen. Theater ist auch da, um zu provozieren. Wir hatten Inszenierungen, die einige Leute ganz toll fanden, andere ganz schrecklich. Die haben angefangen, zu diskutieren. Das war wunderbar, weil es auf Augenhöhe stattfand. Das würde ich mir in der Gesellschaft öfter wünschen.
Sind stundenlange Wagner-Inszenierungen wirklich das, was das Publikum sehen will?
Ein Teil bestimmt. Wagner ist immer gut besucht. Wenn Sie fünf Stunden lang den Tristan-Akkord hören und dann kommt endlich die Auf- bzw. Erlösung – das ist wie eine Katharsis. Das ist wie beim Liebesakt. Je länger, desto besser.
In den letzten Jahren wurden viele Operetten und Komödien gespielt. Ist das Stadttheater gesellschaftskritisch genug?
Ich hoffe schon und wir müssen das auch sein. Das nächste Stück ist Nicht sehen über den Kinderarzt Franz Wurst, der in Kärnten jahrzehntelang Kinder missbraucht hat.
Franz Wurst kommt als Figur nicht in dem Stück vor. Warum?
Das ist die Entscheidung des Regisseurs, die ich sehr unterstütze. Soll man das inszenieren, dass sich der alte, geifernde Mann ein Kind auf den Schoß setzt? Dieser Realismus würde nur schaden. Wir erzählen das auf sensible Art. Was passiert, entsteht in der Fantasie der Zuschauer. Wenn ich das platt auf der Bühne zeige, löst das etwas Falsches aus.
Voyeurismus?
Genau, und das wäre furchtbar. Wir wollen den Opfern und dem, was in der Gesellschaft passiert ist, Platz geben. Die Menschen sollen nicht mit Schuldzuweisungen nach Hause gehen, sondern sich fragen: Wie hätte ich mich verhalten?
Wäre so etwas wie das »System Wurst« heute noch möglich?
So etwas kommt immer in einer anderen Gestalt daher. Wurst war nur denkbar durch die Lehre des Nationalsozialismus, man hat den Göttern in Weiß vertraut. Er konnte alles machen. Es gab Sexpartys mit den Kindern, sie wurden grün und blau geschlagen. Es muss jeder gesehen haben, aber wenn man Menschen blind vertraut, passiert so etwas.
Erstaunlich, dass Künstler den Fall lange nicht thematisierten?
Vielleicht braucht man den Abstand, wenn so etwas Schreckliches passiert ist. Als er 2002 verurteilt wurde, gab es noch viele Anhänger. Man hat den Opfern teilweise nicht geglaubt und gesagt, Franz Wurst geschieht Unrecht. Man wollte nicht wahrhaben, dass da eine Gesellschaft komplett versagt hat. Die jetzigen Politiker haben endlich dafür gesorgt, dass man darüber sprechen kann.
Kritiker meinen, die SPÖ versuche, die Rolle des früheren Landeshauptmannes Leopold Wagner in der Causa herunterzuspielen.
Das Gefühl habe ich nicht. Die Rolle Wagners wird im Stück auch klar benannt.
Land und Stadt subventionieren das Stadttheater mit jährlich insgesamt 17,66 Millionen Euro. Ist es das wirklich wert?
Einer Gesellschaft sollte so ein Theater etwas wert sein. Ich habe mitbekommen, wie in Ostdeutschland Theater geschlossen wurden und Städte geistig verarmten. Die Neiddebatte ist furchtbar. Sind Spitäler oder Schwimmbäder wichtiger als Theater? Nein, das gehört zusammen. Schauen Sie, wie viel für Corona-Maßnahmen auf einmal Geld da war.
Wenn man den 270 Mitarbeitern im Stadttheater monatlich 4000 Euro brutto zahlt, kommt man auf 15 Millionen Euro, rechnet uns ein Leser vor. »Als normaler Bürger kann man diesen Zuschuss nicht verstehen«, meint er. Was antworten Sie ihm?
Wenn er die Gehälter unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehen würde, würde er weinen. Viel Geld fließt ja unter anderem in den Bau der Bühnenbilder und Kostüme sowie in den Unterhalt des Hauses.
Das Stadttheater bekommt vom Land jährlich fast elf Millionen Euro, freie Kulturinitiativen bekommen gemeinsam nur 1,5 Millionen. Wie gerecht ist diese Verteilung?
Wenn es nach mir ginge, muss es mehr Geld für Kunst und Kultur geben. Klagenfurt hat eine wunderbare freie Szene, wir arbeiten auch an gemeinsamen Projekten. Das Stadttheater kann ausgebildete Künstler adäquat bezahlen, das kann die freie Szene nicht.
Befürchten Sie, dass in Zeiten knapper Budgets »Prestigeprojekte« wie das Stadttheater, wie in früheren Wahlkämpfen, wieder infrage gestellt werden?
Es erschreckt mich, wenn man die Gesellschaft dumm halten will. Vielleicht ist es eine Elitisierung, aber jede und jeder sollte Zugang zur Hochkultur haben – das schaffen wir nur, wenn wir die Eintrittspreise niedrig halten. Darum beneiden uns andere Länder. Man vergisst, dass jedes Jahr mehr Leute im Theater als im Fußballstadion sind. Auch wenn nur zehn Prozent der Menschen ins Theater gehen.
Also doch Theater für Eliten?
Eliten heißt nicht für die oberen Zehntausend, die Champagner trinken. Zu uns kommt, wenn man so will, eine geistige Elite. Aber alle müssen Zugang zu Goethe, Wagner, Strauss haben. Vielleicht wäre die Welt eine andere, wenn wir mehr Menschen zu diesen Kunstwerken verführten. Das verstehe ich unter Elitisierung.