Heike Kretschmer ist am Sonntag völlig unerwartet und viel zu früh von uns gegangen. Wir verlieren mit ihr nicht nur eine geschätzte Kollegin und großartige Schauspielerin, sondern auch einen wunderbaren und liebenswerten Menschen. Sie hat uns alle – Kolleg*innen wie Publikum – mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Schauspielkunst und ihrer Energie beschenkt und bereichert. Unser Mitgefühl gilt ihren Angehörigen und Freund*innen. Wir sind erschüttert und traurig und werden Heike sehr vermissen.
Heike Kretschmers Weg als Schauspielerin führte sie zunächst nach Berlin an die renommierte Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Dort begegnete sie Lore Stefanek, die ihr half »zu kapieren, dass es nicht nur darum geht, eine Rolle zu spielen, sondern dass es auch mit mir zu tun haben muss. Und dass ich nicht nur so ein Klischee von einem netten Mädchen oder einer hysterischen Kuh zeigen kann, sondern dass ich mich aufsuchen muss, um zu überzeugen.«
In den folgenden drei Jahren im Festengagement am Theater Oberhausen (1998 bis 2001) vermochte sie, mit dem Erlernten auf der Bühne zu überzeugen, als Shakespeares Ophelia oder Lessings Emilia, als Ibsens Hedda oder Marina Carrs Portia. Über ihre Franziska in Roland Schimmelpfennigs Die arabische Nacht hieß es: »Wundervoll wechselt Heike Kretschmer die Tonfälle, von kindlicher Verträumtheit und Burschikosität zu Zweifeln und Selbstbewusstsein einer jungen Frau, eine schillernde Seelenstudie im Mädchenmärchengewand«. Für ihre Figuren in Oberhausen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, so u.a. mit dem NRW-Förderpreis für junge Schauspieler, zweimal mit dem 1. Preis als Darstellerin beim Oberhausener Theaterpreis.
So weckte die junge Nürnbergerin die Aufmerksamkeit des Wiener Burgtheaters – im Herbst 2001 wurde sie im Haus am Ring Ensemblemitglied. Die frischgebackene Burgschauspielerin debütierte in einer Rolle, mit der sie bereits in Oberhausen ihr Publikum begeisterte: In Clare Boothe Luces giftiger Satire Damen der Gesellschaft (Regie: Sven-Eric Bechtolf, Wolfgang Wiens) war sie die Ehebrecherin Crystal Allen: »Eine berechnende Schlampe mit dschungelrot lackierten Fingernägeln. Doch irgendwann bricht ihr Intrigengebäude zusammen, und Heike Kretschmer packt die ganze Frustration, die Wut und Verzweiflung dieser Frau in einen Schrei, der einen in den Sitz drückt, als säße man in einem abhebenden Flugzeug«. Hier konnte sie auch eine weitere wesentliche Facette ihrer Kunst zeigen und entfalten– die der luftleichten Komödiantin. An der Burg arbeitete sie u.a. mit Andrea Breth, in deren Kirschgarten sie eine vitale Dunjascha war. In der Österreichischen Erstaufführung von Sarah Kanes 4.48 Psychose durch James MacDonald berührte sie mit einem zart lächelnden Blick in den Abgrund. Sie tänzelte traumverloren durch Dieter Giesings Inszenierung von Botho Strauss’ Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia und reimte sich durch den verzauberten Märchenwald von Hänsel und Gretel in der Regie von Wolfgang Wiens – auch für Kinder und Jugendliche zu spielen blieb stets, auch am Stadttheater Klagenfurt, eine Herzensangelegenheit.
Nach sechs Jahren am Burgtheater folgte die vielseitige Schauspielerin dem Ruf Michael Schottenbergs an das Wiener Volkstheater, wo sie ebenfalls für sechs Jahre ins Ensemble ging. Hier war sie Lady Macbeth, das Fräulein Kost im Musical Cabaret, Donna Elvira in Molières Don Juan, Katharina Binder in Arthur Schnitzlers Liebelei, Grace in der österreichischen Erstaufführung von Lars von Triers Dogville, noch eine Schnitzler-Figur, nämlich Irene Herms in Der einsame Weg, Marthe Schwerdtlein in Goethes Urfaust und Sophie in Clavigo, ebenfalls von Goethe. Sie arbeitete hier mit so unterschiedlichen Regisseur*innen wie Stephan Müller, Enrico Lübbe, Georg Schmiedleitner, Alexander Nerlich, Nurkan Erpulat, Nuran David Calis oder Vicki Schubert.
Das Alltagsgrau zu verzaubern, das war schließlich auch ihr Alltag am Stadttheater Klagenfurt, wohin sie Florian Scholz, den sie bereits von der Schauspielschule kannte, lockte. So machte sie 2016 die Kärntner Hauptstadt zu ihrem Lebensmittelpunkt, fühlte sich sowohl in der Stadt als auch am Theater sehr wohl. Hier begeisterte sie u.a. in Inszenierungen von Henry Mason (Familiengeschäfte, Jannik und der Sonnendieb), Mateja Koležnik (Iwanow) oder Lore Stefanek (Der Talisman), aber auch in Kinderkonzerten das Publikum. Ein Highlight waren ihre vielen Figuren – Menschen wie Tiere – im Kindermusical Das Dschungelbuch (Regie: Igor Pison). Nun in der Intendanz von Aron Stiehl, konnte Heike Kretschmer in ihren letzten beiden Rollen am Stadttheater noch einmal die gesamte Bandbreite ihres Könnens zwischen feinnerviger Figurenauslotung und hochenergetischer Komödiantik ausspielen: In Miloš Lolićs Deutung von Arthur Schnitzlers Reigen war sie die Schauspielerin, nervös changierend zwischen Hellem und Dunklem, in Shakespeares Was ihr wollt in der Regie von Georg Schmiedleitner ergänzte sie als ausgelassene, herzhaft-beherzte Kammerfrau Maria das Trio der Rüpel.
Wir hatten noch viele Pläne mit Heike, einer schillernden Schauspielerin, Weggefährtin und Freundin, die auch in Bonn, Bozen und bei den Salzburger Festspielen gastierte, und die ihr Metier, ihre Kolleg*innen, die Menschen liebte. Ihr Geheimnis war es, »die Geschichten bei sich selbst suchen, sich selbst zu vertrauen: Man ist für das Publikum am überzeugendsten, wenn man ist, wie man ist«.
Fuck normal. I want magic.
Hans Mrak, Schauspieldirektor