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19. Februar 2024

Das »Darunter« spürbar machen

Raphaela Möst und Axel Sichrovsky erklimmen einen allegorischen Berg, der finstere Geschichte in sich birgt: Mit Adern erzählt die junge Autorin Lisa Wentz (*1995) von einer besonderen Liebe im Tirol der Nachkriegszeit. Die beiden Schauspieler*innen im Gespräch über Georg Schmiedleitners bildstarke Inszenierung, Aufarbeitung der Geschichte und die Kraft des Ungesagten.

Der verwitwete Bergarbeiter Rudolf sucht eine neue Frau und Mutter für sich und seine fünf Kinder. Aloisia hat auf seine Anzeige geantwortet und fährt, allein mit einer kleinen Tochter, zu ihm nach Tirol. Wie hat der Text auf euch gewirkt?

Raphaela Möst: Ich war positiv überrascht. In den meisten Texten von jungen Autor*innen wird sehr viel gesprochen, gerne auch in Monologen. Lisa Wentz hat diesem Stück mit seinen wortkargen Dialogen eine ganz besondere Form gegeben.

Axel Sichrovsky: Tatsächlich liest man viele postdramatische oder chorische Textflächen von modernen Autor*innen. Man ist dann wirklich überrascht, einen so psychologisch-realistischen Text in der Hand zu haben. Schon beim Lesen habe ich festgestellt, dass das Spielen eine Herausforderung wird. Man hört oder liest immer nur die Spitze des Eisbergs. Es geht dann darum, das »Darunter« auf der Bühne spürbar zu machen.

Raphaela Möst: Neben den psychologisch nachvollziehbaren Figuren gibt es dann ja noch dieses große Bild vom Berg. Ich finde das ist ein sehr schönes, monumentales Bild mit so vielen verschiedenen Aspekten. Auf dem Bergbau basiert unser ganzer Wohlstand, dafür wurden die Berge von den Menschen ausgehöhlt. In der heutigen Zeit entstehen wieder neue Bilder, auch im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Gletscher. Gerade hier in Österreich sind die Berge ja auch rein geografisch recht wesentlich und monumental.

Aloisia lebt in einer – aus heutiger Sicht – anderen Zeit als sehr emanzipierte Frau. Wie kann man diese Figur beschreiben?

Raphaela Möst: Aloisia hatte durchaus eine schlimme Vergangenheit, sie hat ihre Liebe verloren. Aber sie entscheidet sich dafür, nicht verrückt zu werden, nicht depressiv zu werden, sondern »Ja« zur Liebe und zum Leben zu sagen. Das birgt natürlich immer ein gewisses Risiko. Ich finde es bewundernswert, dass Aloisia diesen Schritt wagt: Sie antwortet auf eine Zeitungsannonce und nach ein paar Stunden kennenlernen, beschließt sie mit ihrer kleinen Tochter bei Rudolf und seinen Kindern in Tirol zu bleiben. Dass alles so gut aufgeht, ist natürlich auch mit viel Glück verbunden.

Rudolf lebte nach dem Tod seiner Frau allein mit fünf Kindern. Was hat ihn geprägt in seinem bisherigen Leben?

Axel Sichrovsky: Ich glaube, Rudolf ist für die Gesellschaft in den 1950ern ein sehr sensibler, einfühlsamer Mann. Er möchte einfach ein guter Mensch sein. Er weiß aber auch, dass er in den Kriegsjahren Schuld auf sich geladen hat – in welchem Rahmen ist ihm selbst vielleicht nicht so klar. Ich stelle mir vor, dass er vielleicht Wachpersonal im Silberberg war. Dort arbeiteten im Zweiten Weltkrieg Gefangene unter schrecklichen Bedingungen für die Messerschmitt-Rüstungsfabrik. Er war ein Zahnrad in einem ganz grausamen System, auch wenn sein Spielraum wahrscheinlich unglaublich gering war. Mit seiner Zeitungsannonce wollte er in erster Linie eine neue Mutter für seine Kinder finden. Er möchte alles richtig machen, trotzdem weiß er, dass er nicht alles richtig gemacht hat auf seinem Weg.

Der Text erstreckt sich als Familiengeschichte über mehrere Generationen. Es geht um Stärke, Emanzipation aber auch um Schuld und Verdrängung. Wo konntet ihr persönlich Verbindungen zu dieser Lebenswelt und den Biografien von Aloisia und Rudolf herstellen?

Raphaela Möst: Ich kann durch meine Omas an diese Figuren andocken. Die haben nicht viel gesprochen über die Kriegszeit. Vielleicht haben sie sogar den Enkelkindern mehr erzählt als den eigenen Kindern. Lisa Wentz hat durch die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter die Verbindung zu dieser Welt hergestellt. Die Menschen dieser Kriegsgeneration waren wahrscheinlich alle – heute würde man sagen – traumatisiert. Aber sie mussten ihr Leben natürlich trotzdem meistern – ohne wöchentliche Therapiestunden.

Axel Sichrovsy: Ich bin zur Hälfte bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mein Opa war Widerstandskämpfer und war im KZ Flossenbürg Feinmechaniker in den Messerschmitt-Werken. Er hat sehr viel über diese Zeit erzählt, hat aber nie über seine Gefühle gesprochen. Wenn ein entsprechender Beitrag im Fernsehen war, hat er am ganzen Körper zu zittern begonnen. Er konnte sein Inneres überhaupt nicht ausdrücken oder das Erlebte verarbeiten.

Dieses Schweigen greift auch Lisa Wentz auf. Sie setzt im Text Pausen und gibt dem Ungesagten große Bedeutung. Wie war es für euch als Schauspieler*innen diese feinen »Nuancen« für eure Arbeit auf der Bühne aufzugreifen?

Raphaela Möst: Das ist eine Herausforderung, aber auch der Zauber des Theaters: Letztendlich liegt es außerhalb der eigenen Kontrolle, was sich genau erzählt und was nicht. Das hat auch viel mit dem Zusammenspiel auf der Bühne zu tun, mit den Schwingungen im Raum. Ich hoffe, dass uns das gelingt.

Axel Sichrovsky: In Adern bestehen viele Sätze nur aus drei Wörtern. Ganz viele Themen werden nur angedeutet und trotzdem weiß man immer, worüber die Figuren reden. Das gelingt der Autorin ausgezeichnet. Da ist ein »ja aber« oder ein »aber wenn« und man weiß genau, was eben nicht gesagt wird. Für mich als Schauspieler ist es eine Art Auspendeln: Mal geht man bei einer Probe mehr ins Formale, mal mehr ins Psychologische oder man spielt so, wie man selber in diesen Situationen reagieren würde. Dieser Prozess ist noch nicht zu Ende und wird sich in den Endproben noch fortsetzen.

Raphaela Möst: Und es braucht natürlich auch den Zuschauer und seine Projektion. Zu unserer Phantasie kommt noch die des Publikums dazu.

Regisseur Georg Schmiedleitner und die Ausstatter*innen Cornelia Kraske und Stefan Brandtmayr pflegen eine langjährige und enge Zusammenarbeit. Adern setzt das Team u. a. mit einem Berg-Bühnenbild mit »Kletterwand« in Szene – eine körperliche Herausforderung?

Raphaela Möst: Ich denke nicht darüber nach, was vielleicht passieren könnte. Deswegen habe ich diese Bühne sehr gerne als Spiel-Platz angenommen, wo man herausfindet, was alles möglich ist.

Axel Sichrovsky: Ich versuche mit der Bühne so umzugehen wie mit einer Hintergrundlandschaft. Es kann zum Beispiel passieren, dass ich beim Wandern mit jemandem in ein ernsthaftes Gespräch gerate. Von Situation zu Situation wird das einen Einfluss haben auf unsere Diskussion, aber man konzentriert sich ja trotzdem auf den Inhalt und nicht – wie hier auf der Bühne – auf den Berg oder die Leiter. Der Fokus ist auf der Auseinandersetzung, Hindernisse schieben sich dann eben dazwischen.

Tochter Therese steht im Stück für die nächste Generation – welche Bedeutung kommt den »Nachkommenden« zu?

Raphaela Möst: Ich denke, es geht immer ums Verstehen, also nicht nur intellektuell, auch körperlich, emotional. Das ist der Grund vom Wiedererzählen. Es ist kein abgeschlossener Prozess, weil man immer wieder neue Gedanken und Gefühle zu einem Thema haben kann. Über die direkte Nazizeit wurde schon viel erzählt, es gibt Literatur und Filme… Interessant finde ich, dass es in diesem Stück darum geht, wie es nach dem Erlebnis eines Krieges mit den Menschen weitergeht.

Axel Sichrovsky: Ich finde, es ist auch wichtig, zu wissen, wo man geschichtlich und auch emotional herkommt. Man muss diesen Weg der Urgroßeltern und der Eltern erst begreifen. Man weiß heute auch, dass Gefühle, Erlebnisse, Traumata und Erfahrungen auf einer genetischen Ebene, aber auch auf der Erziehungs-Ebene weitergegeben werden. Man muss seine Herkunft begreifen, um die eigene Identität mit seinem freien Willen zu gestalten. Dann stellt sich die Frage: Will ich an die Vorfahren anknüpfen oder will ich mich differenzieren? Ganz allgemein gibt es ja auch immer die Hoffnung, aus der Gesichte zu lernen.