Ich bei Tag und du bei Nacht in der Konditorei »Pâtisserie Chaim Soutine«
von Josef Winkler / Uraufführung / Auftragswerk des Stadttheaters Klagenfurt / Kooperation mit dem kärnten.museum
»Die Erinnerung hilft dem Verständnis, warum man gegen das kämpfen soll, was nicht aufhört, sich wiederholen zu wollen«, heißt es in der Rede, die Franz Schuh für das Fest der Freude am 8. Mai 2025 auf dem Wiener Heldenplatz geschrieben hat. Das Fest erinnert an das Kriegsende. Das Erinnern, das Sprechen über das Verdrängte, Vergessene, »Verräumte«: dieser Kraftakt wider das Verstummen ist das glühende Herz des neuen Stücks, das Josef Winkler im Auftrag des Stadttheaters Klagenfurt geschrieben hat.
Es spricht von sexuellem Missbrauch und transgenerationalen Traumata, die nicht nur Individuen und Familien, sondern ein ganzes Land plagen, im Namen von patriarchalen Strukturen, Katholizismus und Nazismus. Ursache und Wirkung nisten im scheinbar Alltäglichen und glühen bei Nacht, plagen die Opfer in dunklen toxischen Alpträumen. Es ist nicht vorbei, noch lange nicht, wenn sich in unseren Köpfen und Körpern nichts ändert. Die junge Regisseurin Annalisa Engheben untersucht mit der Schauspielerin Clara Liepsch Winklers »Topografie der Nacht«, sie graben sich »maulwurfhaft« durch die Erde, die alles zudecken soll, werfen in jenem Gras, das darüber gewachsen ist, Erde auf: »Oder soll ich vielleicht darüber schwiegen?«
Annalisa Engheben konfrontiert in ihren Arbeiten Menschen damit, was sie verdrängen oder vermeiden, wofür oder wogegen sie Ausstiegsstrategien entwickelt haben, um nicht hinsehen oder nicht zuhören zu müssen. Mit einer veränderten Perspektive der Einzelnen kann eine gesellschaftliche Transformation beginnen, im Spiegel der Bühne liegt Transformationspotenzial. Individuelle Erfahrungen als Symptome gesellschaftlicher Dynamiken lesbar zu machen, das ist wofür sie sich interessiert. »Ich will beim Wesentlichen ankommen. Und dabei versuchen, eine Sache wahrhaftig und in aller Direktheit zu durchdringen.« Ihre Inszenierung von Annie Ernaux’ Das Ereignis am Deutschen Schauspielhaus Hamburg wurde für die Shortlist des Theatertreffens 2023 nominiert und zum Festival Radikal jung nach München eingeladen und sie wurde dafür in der Kritiker:innenumfrage von Theater heute als Nachwuchsregisseurin des Jahres nominiert (2. Platz).
Pressestimmen
»Ein effektvoller Kunstgriff ist dabei die Besetzung des Bühnenmonologs mit einer Frau: Die junge deutsche Schauspielerin Clara Liepsch erzählt sowohl aus Sicht des Autors als auch aus der seiner verstorbenen älteren Schwester, einer gelernten Konditorin, diewegen Schizophrenie Jahre in einem psychiatrischen Pflegeheim verbracht hat. Es ist ein assoziatives Graben in der Vergangenheit, ein Erinnern an Missbrauch, Demütigung und vielfältige Ängste: „Maulwürfe tauchen immer wieder in meiner Nacht auf.“ In der detailreichen, sinnlichen Regie von Annalisa Engheben hantiert die Schauspielerin mit Wasser, Erde und Stoffen, klettert eine Leiter hoch oder krümmt sich am Boden zusammen. Stets bleibt ihr Kontakt zum Publikum aufrecht – mit zwingenden oder schelmischen Blicken, kleinen Gesten und großen Ausbrüchen. Weder Bühnengraben noch Kulissen halten auf Distanz, sie ist überall im Raum gegenwärtig. Ihre Präsenz inVerbindung mit der präzisen und poetischen Sprache Josef Winklers scheint den Text in eine neue Dimension zu erweitern.«
»Bei all dem Anschreiben gegen das Vergessen und Verdrängen, bei allem Graben in der Vergangenheit fehlt es diesem Text auch nicht an feinsinnigem Humor. Doch besonders die bildreiche, exakte und so poetische Sprache Josef Winklers in der Interpretation von zwei Frauen ist es, die das Publikum bei der Uraufführung des Stückes Donnerstag Abend im kärnten.museum zu langen Standing Ovations hinriss.«